Going where the (no) action is – Eindrücke aus einem Jahr Pandemie

Oft hört man: Das Leben schreitet in Zeiten der Corona-Pandemie im Schneckentempo voran. Aber vergeht es eigentlich nicht wie im Flug? Während man mit dieser Metapher meist etwas Freudiges verbindet, beschreibt es heutzutage jedoch das Gefühl der Taubheit, des emotionalen Dursts nach Ereignissen und physischen Erlebnissen. Das Leben gleicht nun eher dem Fliegen im Flugsimulator: Man fliegt, aber das Wesentliche fehlt – der direkte Kontakt mit der Luft und der Außenwelt.


Was das alles mit Marktforschung zu tun hat, werden sich nun einige Lesende fragen. So fühlt sich für viele qualitativ Forschende seit rund einem Jahr der berufliche Alltag an. Und lassen Sie es mich gleich sagen: Das hier wird kein pessimistischer Abgesang auf die Pandemie. Aber auch kein Loblied. Sondern einfach eine thick description dessen, was mir in Gesprächen mit anderen Markforschenden begegnet ist.


Wir qualitativen Forscherinnen und Forscher lieben den Austausch mit Menschen. Es ist unser Lebenselixier, das uns aufblühen und den manchmal stressigen Berufsalltag vergessen lässt. Genau dieser Alltag fehlt jetzt. „Ich würde gerne mal wieder in den Ring!“ ist eine dieser Aussagen, die die Zoom-Fatigue des/der auf Interaktion getrimmten Moderators/Moderatorin umschreibt. Die Bühne der Gruppendiskussion, der nonverbale Austausch mit Befragten geht im mit Videokacheln gepflasterten Zoom-Fenster unter. Das zwischen den Zeilen Lesen fällt schwer; ebenso wie der Witz, den man aufgrund seiner Stimmungsantennen im Analogen macht – im virtuellen Raum aber unterlässt. Wer weiß, ob die Ironie, das Augenzwinkern auch auf der anderen Seite des Bildschirms ankommt?


Szenenwechsel. Wir schauen in eine schwedische Küche. An der einen Wand kleine, azurblaue Kacheln, an der anderen Wandregale mit handgefertigter, grauer Töpferware. Landlust-Idylle pur. Edda, Anfang 60, dreht den Laptop zu sich und zeigt mit einem verschmitzten Grinsen ihren „Spickzettel“. Dort hat sie allerhand englische Begriffe notiert. „Ich habe noch nie auf Englisch über Dunstabzugshauben gesprochen“, verrät sie und fügt hinzu: „Aber ich habe mich gewissenhaft darauf vorbereitet“. Die Küchenerkundung kann beginnen. Selten war es leichter, die Intimität eines Zweiergesprächs mit Einblicken für ein ganzes Kunden-Team zu vereinen. Auf Zuruf können wir uns Details wie die Filter der Dunstabzugshaube aus der Nähe ansehen. Dank HD-Kameras können nun nicht nur 2-3 Personen wie im klassischen In-Home echte Einblicke in verschiedene Lebenswelten erhaschen, sondern große Teams – und das auch noch international. Ein echter Gewinn aufgrund der „Zwangsdigitalisierung“ durch Corona!


Apropos reisen! Das, was sonst einen guten Teil unseres Alltags ausmacht, fällt weg. Für mich persönlich gleich in mehrfacher Hinsicht: Das morgendliche Pendeln mit der S-Bahn und die damit verbundene Lesezeit. Aber auch die großen Reisen zwecks Datenerhebung. Manchmal war das toll und instagrammable – gestern Hamburg, heute Köln, morgen München –, manchmal aber auch einfach nur anstrengend. Wenn aufgrund der fehlenden Verdunklungsvorhänge im Hotelzimmer der Morgen um 5.30 Uhr anfängt und dir der busy telefonierende Geschäftsmann mit seinen nicht enden wollenden Einwürfen in Düsenjet-Lautstärke die 30 Minuten Power Nap im Ruhe-Abteil des ICE unmöglich macht.

 
Aber ein wenig vermissen tun doch die meisten von uns die weite Research-Welt. Die Vertrautheit der großen Bahnhöfe und ihrer Imbiss-Buden, die stolz vor sich hergetragenen bahn.bonus-Punkte. Der Plausch mit den Teststudio-Teams und die Live-Bewirtung zwischen den Gruppendiskussionen, oftmals mit Lokalkolorit. Man munkelt, die Wahl eines Teststudios basiere nicht immer allein auf der Qualität der Rekrutierung. (Forschungs-)Liebe geht bekanntlich auch durch den Magen…
Was bleibt nun nach einem Jahr Pandemie?  Die Einsicht, dass sich die Quali-Welt geändert hat. Dass das online Forschen das so wichtige „Fühlen“ und Erleben von Gruppendiskussionen erschwert. Aber auch, dass sich die Lücke, die durch den Wegfall von physischen In-Homes entsteht, in einigen Fällen durch die virtuelle Variante ersetzt und um neue Möglichkeiten (Ausland ohne reisen) ergänzt werden kann. Und zu guter Letzt die Erkenntnis, dass man als qualitativ forschende Person im Moment – um das Bild vom Anfang aufzugreifen – zwar auf „frische Luft“ verzichten muss, dafür aber neue Routen fliegen darf. 

 

Autorin: Mareike Oehrl

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