Hecomi - Kunst, ein wenig Kahneman und Marktforschung.
Das Thema Kunst und Marktforschung beschäftigt mich seit geraumer Zeit – zuletzt zu sehen bei der Research Plus, meiner Kolumne auf marktforschung.de und neulich bei der 50 Jahr Feier der Wirtschafts-Fakultät Pforzheim, bei der ich (Turm-)thesen dazu vorstellen durfte.
Am letzten Wochenende in Hamburg begegnete mir das Thema Kunst eher zufällig, aber die Bedeutung für unsere Branche und unseren Berufsalltag hat mich wieder wie ein Blitz getroffen.
In einer Hamburger Galerie stieß ich zufällig auf einen Künstler mit Namen Ken‘ ichiro Taniguchi. Etwas verstört und auch fasziniert betrachtete ich seine filigranen und doch sehr komplexen Skulpturen, die mich irgendwie an Technikspielzeug erinnerten.
Im Gespräch mit der japanischen Galeristin haben wir über den Künstler, aber auch über politische und gesellschaftliche Ereignisse in Japan geredet.
Das Gespräch ging weiter und nun zeigte und erklärte mir die Galeristin die Kunstwerke und den Entstehungsprozess der Skulpturen von Ken‘ ichiro Taniguchi. Hecomi, so heisst die Serie des Künstlers, ist ein japanischer Begriff, der einen Riss oder einen Bruch in einem Bauwerk oder einer Straße beschreibt.
Taniguchi sucht sich solche Risse oder Bruchstellen, sie begegnen ihm in seinem Alltag und er verwandelt diese in Skulpturen wie diese:
Was hat das nun Alles mit Marktforschung zu tun? Für mich liegt das auf der Hand.
Gefangen
Wenn wir uns gefangen nehmen lassen von unseren eigenen Mindsets und Überzeugungen, sind wir als Forscher erstens nicht in der Lage eine neutrale, unvoreingenommene Position einzunehmen. Zweitens, und das betrifft die zukünftige Entwicklung unserer gesamten Branche, wir sehen auch nur die Dinge, die wir sehen wollen und die wir gewohnt sind zu sehen. Taniguchi zeigt uns, dass wir immer wieder interessante Dinge, die uns in unserem Alltag begegnen übersehen. Wir treten sie manchmal mit Füßen und regen uns über Schlaglöcher auf. Unsere Gedankenwelt bestimmt, was wir sehen und wie wir es interpretieren. Kahneman pur.
Befreien 1
Taniguchi tritt heraus, er befreit sich. Er verlässt das eigene, starre Gedankengebäude. Erst dadurch ist er fähig zu sehen oder bestimmte Dinge wahrzunehmen und zu erkennen. Eine Idee ist geboren. Vielleicht sogar eine disruptive Idee, eine die sogar „auf der Straße liegt“.
Ein Marktforscher, der diese Fähigkeit nicht besitzt und kultiviert, wird ein schlechter sein und bleiben. Und, er wird vor allem keine neuen Ideen entwickeln, sondern immer Alles so machen, wie man es vor XX Jahren auch schon getan hat.
Beobachten
Im Design Thinking kommt der Beobachtung eine zentrale Rolle zu. Beobachten zählt ebenfalls zu den Kernkompetenz eines guten Marktforschers: Nur wer fähig ist, Menschen, ihre Rituale, ihre Codes zu beobachten und zu verstehen, kann daraus Erkenntnisse ziehen! Taniguchi nimmt Abdrücke der Risse und Bruchstellen. Aus diesen Abdrücken entsteht dann eine zweidimensionale Grundform. Mit anderen Worten: eine deskriptive Analyse des Zustands und die Dokumentation.
Befreien 2
Der Künstler Taniguchi befreit sich in seinem künstlerischen Prozess ein zweites Mal. Er gibt sich nicht zufrieden mit der Beschreibung. Er nimmt wieder eine andere Perspektive ein, er verlässt die zweite Dimension und schafft etwas Neues. Er fügt eine weitere Dimension hinzu und plötzlich wird aus einem Abdruck eines Risses eine dreidimensionale Skulptur. Seine Kunst erfüllt den Raum, sie wird anschaulicher, die neue Dimension sorgt für mehr Komplexität, für mehr Spielraum für Interpretation und Faszination. Vielleicht führt die dritte Dimension auch zur Überforderung?
In der Marktforschung stehen wir vor ähnlichen Herausforderungen. Keep it simple bedeutet einerseits gute Verständlichkeit und Reduktion von Komplexität, aber andererseits kann zu viel Reduktion auch bedeuten, dass die Vereinfachung zum Klischee wird und nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun hat.
Zu komplexe Mafo-Kunstwerke verstellen uns aber unter Umständen den Blick aufs Wesentliche, dadurch gewinnen wir nicht viel. Wir müssen die Balance finden zwischen komplexen Erklärungsmodellen und der relativ einfachen Erfassbarkeit.
Zeit nehmen und entdecken
In einem Kunstwerk steckt auch Kampf. Man muss sich einlassen, man muss der Geschichte Raum geben und Zeit, damit man sie verdauen kann. In der heutigen sich immer schneller drehenden Welt hat man oft nicht die Zeit für eine solche Betrachtung. Aber, wenn wir uns wieder an Kahneman erinnern: Sitzen wir so nicht immer wieder Fehleinschätzungen und Schnellschüssen unseres lieben Systems 1 auf?
Handwerken
Nach meinen Vorträgen bin ich immer wieder darauf angesprochen worden, ob das Kunst-Mafo-Thema im Alltag überhaupt umsetzbar sei und ob Mafo nicht vor allem etwas mit gutem Handwerk zu tun habe. Auch dazu gibt mir Taniguchi eine Antwort. Nicht er direkt, sondern ich sehe das in seinen Skulpturen. Alle Kunststoffteile sind per Hand geschnitten, selbst die kleinsten Teile der Scharniere. Die handwerklichen Fähigkeiten sind nicht zu übersehen. Der Mafo-Künstler braucht die handwerklichen Fähigkeiten, um überhaupt die Stufe der Perfektion zu erlangen. Ohne das Handwerk, beispielsweise die Methodenkenntnis, bleibt Vieles heiße Luft.
Perfekt sein (wollen)
Der Anspruch an Perfektion ist meines Erachtens ebenfalls nicht zu übersehen. Auch hier liegt die Nähe zur Marktforschung auf der Hand. Unsere handwerklichen und methodischen Fähigkeiten sind die Basis, unser Fundament. Deswegen ist diese handwerkliche Ausbildung auch so wichtig, denn die Kunst entsteht nicht durch einen Zufall oder zweimal Vorsingen bei DSDS. Sie ist hart erarbeitet, manchmal sogar entbehrungsreich, wie die Marktforschung manchmal auch.
Deswegen ist Kunst und Handwerk und somit auch Marktforschung kein Widerspruch, sondern eine logische Fortführung.
Zukunft machen
Es wird viel geredet und geschrieben über die Probleme der Marktforschungsbranche. Aber, welche Branche oder welcher Sektor muss sich nicht immer wieder selbst entdecken und erfinden? Ist das so überraschend? Ist es nicht eher naiv zu glauben, dass wir uns nicht bewegen müssen? Dass wir uns nicht wie oben beschrieben, befreien müssen?
Von Taniguchi lerne ich noch etwas: Ein Riss oder eine Bruchstelle entspricht vielleicht nicht dem Anspruch an Perfektion und Unversehrtheit. Eventuell ist der Riss sogar gefährlich, weil er eine Struktur instabil machen könnte. Möglicherweise kann dieser Riss sogar eine Struktur zerstören. Es gibt viele Optionen mit einem Riss umzugehen: man kann ihn lassen und schön finden, denn vielleicht ist das Patina. Man kann ihn ausbessern, flicken und dadurch hält die Straße noch ein paar Jährchen, so die Hoffnung. Aber vielleicht sieht nach dem nächsten Winter die Sache viel schlimmer aus, wer weiß? Man kann den Riss zum Anlass nehmen, um die Substanz zu untersuchen und in Frage zu stellen. Man kann den Riss, aber auch wie Taniguchi völlig neu interpretieren, eine disruptive Idee daraus entwickeln und etwas Neues daraus schaffen. Das ist (die) Kunst!
Autor: Oliver Tabino
Vielen Dank an Mikiko Sato für die Erlaubnis, die Bilder zu benutzen. Alle Bilder sind Eigentum der Galerie Mikiko Sato und dem Künstler Ken‘ ichiro Taniguchi:
http://www.mikikosatogallery.com/#/artists/kenichirotaniguchi/work
https://www.facebook.com/pages/Mikiko-Sato-Gallery
Die Verwendung der Bilder ist nur nach Absprache mit der Galerie erlaubt.