TikTok: Der Bold Glamour Filter sorgt für Aufregung

Im November und Dezember 2022 gab es einen regelrechten Hype um Profilbilder auf unterschiedlichen Netzwerken: Lensa hatte für großes Aufsehen gesorgt. Die App ist bereits seit 2018 erhältlich, aber eine neue Funktion war ein Gamechanger für die App. Mithilfe künstlicher Intelligenz lassen sich virtuelle Avatare erstellen. Die Basis ist ein Selfie und etwas Rechenzeit. Das Ergebnis: Spitzenplatzierung in den App-Store-Charts.
Das Erstellen eines eigenen, veränderten und optimierten Selbstbildes, ist Selbstoptimierung und Selbstverschönerung light. Keine OP, kein Gadget, nicht einmal eine neue Make up-Routine ist nötig. Die Opportunitätskosten und der Aufwand sind gering, auch die Umkehr ist „schmerzfrei“.


In den letzten Tagen sorgt ein neuer TikTok-Filter für Aufsehen. Wobei: Aufsehen ist wohl der falsche Begriff. Der sogenannte „Bold Glamour Filter“ sorgt für einen regelrechten Aufschrei in einigen Netzwerken, in Artikeln und Beiträgen von Massenmedien von Spiegel bis CBN und auch von Nutzerinnen.
Vielleicht könnte man meinen: nur ein weiterer Filter für die Selbstdarstellung auf sozialen Netzwerken wie es bereits unzählige gibt? Betrachtet man die Selbstversuche einiger Nutzer auf TikTok wird jedoch schnell klar, dass wir es hier mit „Next Level Shit“ zu tun haben. Wir haben bei Q versucht den Filter genauer zu definieren und letztendlich könnte man den „Bold Glamour Filter“ als „Deep Fake to Go“ beschreiben. Wir präzisieren: „Uncontrolled Deep Fake to Go“. Es gibt keine Einstellungsmöglichkeiten mit denen man Einfluss auf das Ergebnis hat. Die KI entscheidet komplett selbst und liefert ein Ergebnis. Überspitzt formuliert: Der Bold Glamour Filter entscheidet wie eine Person schöner wird und auszusehen hat, nicht die Nutzer:innen.
Menschen, vor allem Frauen wenden aktuell den dynamischen Filter an und die Veränderung ist, salopp ausgedrückt, krass. Es ist kein statischer Filter, den man für Fotos anwendet, sondern ein Bewegtbild-Echtzeit-Filter, der Veränderungen im und am Gesicht vornimmt. Das heißt, es kommt zu Anpassungen, die wie ein virtuelles Make-up daherkommen. Es geht aber noch weiter: Die Veränderungen sind teilweise so stark, dass die Physiognomie angepasst wird. Es kommt zu regelrechten virtuellen Schönheits-OPs in Echtzeit.

Beurteilung des Bold Glamour Filters
Aus der Perspektive von Markt- und Sozialforschern interessieren uns die Reaktionen darauf.
Außerdem haben wir eine kleine Medien-Resonanz-Analyse durchgeführt und diese Medien nach Fachrichtung kategorisiert (z.B. Publikumsmedien wie Spiegel oder Marketing- und Technologiemedien wie T3N oder onlinemarketing.de).
Mit unserem selbst-entwickelten KI-basierten Trendtool Cosmention haben wir ein kleines Sample von 100 TikTok-Nutzerinnen erstellt, die den „Bold Glamour Filter“ genutzt haben und haben die Reaktionen analysiert.
Kurz zur Einordnung: Am 6.3.2023 gab es bereits 203.900.000 Aufrufe des Hashtags „BoldGlamourFilter“ auf TikTok.
Die Reaktionen sind erstaunlich, denn sie sind fast ausschließlich negativ und bisweilen äußerst kritisch.

Hier die besonders kritischen Themen und Sorgen in unterschiedlichen Medien im Überblick.

Negativer Einfluss auf Selbstwahrnehmung und Schönheitsideale

Negative Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl und das Körperbild einer Person - inbesondere bei ganz jungen Nutzer:innen

Der Filter konterkariert Selbstakzeptanz und Body-Positivity

Einige Artikel verweisen auf Studien, die belegen, dass der Konsum von unrealistischen digitalen Inhalten ein Risiko für die mentale Gesundheit darstellt

Desweiteren wird auf eine im Juni 2019 im Journal of the American Medical Association veröffentlichte Studie verwiesen, die auch das Phänomen „Snapchat Dysmorphia“ aufgreift. Hier wird darauf verwiesen, dass Schönheitsfilter, die Gesichtszüge verändern, die Selbstwahrnehmung der User und der Viewer negativ beeinflussen. Ein verstärktes Interesse an Schönheits-OPs kann die Folge sein, so die Studie

Der Blick in Medieninhalte ist recht eindeutig. Wie fallen die Reaktionen bei TikTok-Nutzenden aus?
Wie bereits erwähnt, die Reaktionen sind überwiegend kritisch und oft geschockt. Dies gilt auch für Nutzer:innen. Wir wollen die Reaktionsmuster anhand von Zitaten illustrieren. Die Zitate sind von Nutzerinnen, die den Bold Glamour Filter bereits bei sich selbst angewendet haben. Wir haben eine Stichprobe von 100 TikToks gezogen und diese analysiert. Hier eine Übersicht:

Negativer Einfluss auf Selbstwahrnehmung:
„Dieser Filter ist nicht fair. Ich fühle mich jetzt, als ob ich anders aussehen müsste“.

Nutzerin nach der Anwendung des Bold Glamour Filters: „Dieser Filter sollte mit einem Warnhinweis versehen werden. Selbst wenn ich meine Hände vor meinem Gesicht bewege, sieht man nicht, dass es ein Filter ist (…). Nun fühle ich mich häßlich, wenn ich den Filter wieder ausschalte.“

Negativer Einfluss auf Selbstwertgefühl und mentale Gesundheit:
 „Bold Glamour macht mich kirre im Kopf. Das kann nicht gesund für mich sein.“

„the problem is when I see myself like this, I believe I look like this and then hate my real face”

Allgemeine Bedenken:
„Das sollte nicht legal sein. Es ist nicht normal, dass man einen Filter so einfach und übergangslos (im Engl.: seamless) nutzen kann.“

„Bin ich die einzige, die denkt, dass der Bold Glamour Filter die Nutzer echt „scary“ aussehen lässt?“

Es gibt Anfang März wenige positive Äußerungen von Nutzer:innen. Eine Nutzerin versteht die Aufregung nicht ganz und sieht den Filter als eine Möglichkeit gut auszusehen in Situationen, in denen man sich selbst nicht gut fühlt.
„Why is everyone bitching about the bold glamour filter on TT?! It’s natural looking, beautiful, doesn’t fuck w face shape, & ppl who have low energy can still look good while recording TTs & not feeling self conscious. Am I the only one who doesn’t get dysphoria vibes from it?!“


Fazit und Ausblick:
Wir gehen davon aus, dass die aktuelle, kritische Berichterstattung nicht dazu führt, dass der Filter nicht mehr genutzt wird. Die Aufrufe den Filter nicht zu nutzen, wird das Gegenteil erzeugen.
Es ist davon auszugehen, dass sich die Diskussion vor allem im Hinblick auf den Schutz und die Aufklärung von Minderjährigen noch stärker ausweiten wird.
Der Ruf nach Medienkompetenz-Kursen oder Schulfächern wird durch solche Entwicklungen noch lauter werden, besorgte Eltern äußern sich bereits intensiv auf sozialen Netzwerken.

Wenn sich die Technologie weiter in Richtung „Deep Fake to Go“ entwickelt, hat das sicherlich weitreichende Folgen.
Nur ein kleines Beispiel basierend auf einem weiteren Zitat einer Nutzerin: „I need the bold glamour filter on Microsoft Teams.”

Ist das die Web-Meeting Zukunft und das Ende der Ringlichter? Jedes Web-Meeting wird ein Schaulaufen auf Miss/Mister Universe-Niveau und bei Remote-Vorstellungsgesprächen hat man es nur mit perfekt gestylten und schönheitsideal-konformen Menschen zu tun?
Oder stellen wir uns vor, dass der „Bold Glamour Body Filter“ eingeführt wird,  also eine Version, die nicht nur das Gesicht, sondern den ganzen Körper verändert. Im Life-Beach-Selfie-Video ist kein Pölsterchen zu sehen und die KI entscheidet, ob ich einen ausgeprägteren Bizeps oder eine größere Brust vertragen könnte. Wie ist das mit Selbstakzeptanz und Body-Positivity zu vereinbaren?
Wir sind gespannt, wie sich die Nutzung der „Bold Glamour Filters“ in den nächsten Tagen und Wochen weiterentwickelt.

Carolina Fadai Razavi und Oliver Tabino

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