„It’s all coming back?“ – Tradwives zwischen Nostalgie, Social Media und gesellschaftlicher Sehnsucht

Es ist eine Szene, die viele von uns aus ihrem Social-Media-Feed kennen: Eine Frau steht in einer großzügigen Landhausküche, der Boden aus hellem Holz, die Wände in Pastelltönen gestrichen. Sie knetet Brotteig mit bloßen Händen, während im Hintergrund Kinder lachen und ein Hund durchs Bild huscht. Das Licht fällt sanft durch die Fenster, als wäre es immer goldene Stunde. Ein Gefühl von Ruhe und Geborgenheit liegt über dem Video – und das inmitten einer Welt, die sich oft chaotisch und unsicher anfühlt.
Diese Videos gehören zu einem Trend, der auf Plattformen wie TikTok und Instagram unter Hashtags wie #Tradwife oder #StayAtHomeGirlfriend Millionen von Aufrufen erzielt. Tradwife steht für „Traditional Wife“ – ein Begriff, der ursprünglich in konservativen Online-Communities kursierte und inzwischen weit über diese hinaus Aufmerksamkeit erzeugt. Gemeint sind Frauen, die bewusst ein Leben nach traditionellen Geschlechterrollen führen und dies nicht nur leben, sondern aktiv inszenieren: Der Mann verdient das Geld, die Frau kümmert sich um Haushalt und Kinder – und findet darin Erfüllung.
Was zunächst wie ein Lifestyle-Trend unter vielen klingt, ist in Wahrheit ein gesellschaftliches Phänomen, das tief in aktuell beobachtbare Werteverschiebungen hineinreicht. Denn Tradwife-Content romantisiert nicht nur das Familienleben, sondern auch ein Rollenverständnis, das feministische Errungenschaften bewusst infrage stellt.

Sehnsucht nach Sicherheit in Zeiten der Multikrisen
Um zu verstehen, warum dieser Trend gerade jetzt so populär wird, lohnt sich ein Blick auf die gesellschaftliche Stimmung. Die letzten Jahre haben vieles ins Wanken gebracht: Pandemie, geopolitische Konflikte, Klimawandel, Inflation. Diese Multikrisen haben nicht nur das Sicherheitsgefühl vieler Menschen erschüttert, sondern auch den Wunsch nach Klarheit und Stabilität verstärkt.
In solchen Phasen werden traditionelle Rollenbilder oft attraktiv. Sie versprechen eine einfache Ordnung in einer komplexen Welt: klare Aufgaben, klare Identitäten, ein eindeutiges „Drinnen“ und „Draußen“. Die Hausfrau, die sich um Familie und Heim kümmert, wird zur Projektionsfläche für eine Sehnsucht nach Geborgenheit, Überschaubarkeit und einer klaren Rollenverteilung – selbst für Menschen, die ein solches Leben gar nicht selbst führen möchten.
Marktforscherisch spannend ist hier, wie diese Sehnsucht sowohl individuell als auch kollektiv funktioniert. In qualitativen Interviews hören wir Aussagen wie „Es wäre schön, wenn man einfach wieder mehr Zeit für die Familie hätte“ oder „Früher war alles irgendwie klarer und einfacher“. Diese Sätze sind nicht immer wörtlich zu nehmen – sie drücken weniger den Wunsch aus, buchstäblich in die 1950er zurückzukehren, sondern eher ein Bedürfnis nach Orientierung in einer Zeit, in der viele Lebensmodelle nebeneinander existieren und Gleichberechtigung zwar gesellschaftlich gefordert, aber weiter schwer umzusetzen ist. Man denke hier an die anhaltende Gender-Debatte, politische Diskurse um das Selbstbestimmungsgesetz oder die Vereinbarkeit von Job und Familie. 

Social Media als Katalysator: Die Ästhetik der Einfachheit
Social Media spielt in dieser Dynamik eine zentrale Rolle. Hashtags wie #Tradwife oder #StayAtHomeGirlfriend bündeln Millionen von Beiträgen, die eine bestimmte Ästhetik teilen: Makellos dekorierte Küchen, selbstgemachte Mahlzeiten, Kleidung im „Prairiecore“- oder „Cottagecore“-Stil. Die Farbpalette ist sanft, die Bewegungen langsam, die Stimmung entschleunigt. Es geht um „slow living“ – aber mit einer sehr kuratierten, fast filmischen Perfektion.
Diese Ästhetik ist kein Zufall. Sie wirkt wie eine Gegenwelt zum hektischen Alltag vieler Nutzer:innen. Zwischen E-Mails, Deadlines und ständiger Erreichbarkeit bieten Tradwife-Accounts eine visuelle Fantasie: ein Leben ohne Stress, ohne Erwerbsdruck, ohne Ambivalenzen. Sie zeigen ein entschleunigtes, sorgenfreies Leben.
Dabei sind die Botschaften nicht immer explizit politisch. Aber sie transportieren implizite Werte. Wenn eine Frau wie Nara Smith hausgemachte SpaghettiOs in Abendkleid und Perlenkette präsentiert oder Simha Lily ihre Rolle als „dienende Ehefrau“ mit Bibelzitaten untermalt, wird ein Bild von Weiblichkeit vermittelt, das klare Rollenverteilungen romantisiert – und das in direktem Kontrast zu feministischen Forderungen nach Gleichberechtigung steht.

Gegenbewegungen und Polarisierung: SAHG, PUA und Educators
Parallel zu den Tradwives haben sich weitere Subkulturen gebildet, die entweder ähnliche Narrative bedienen oder ihnen ganz bewusst widersprechen:

Stay-at-Home Girlfriends (SAHG): Frauen, die (noch) keine Kinder haben, aber ihre Partnerschaften ähnlich inszenieren. Sie zeigen Wellness-Routinen, Shopping-Trips, Selfcare – ebenfalls in einer makellosen, oft hyperfemininen Ästhetik.

Pick-Up Artists (PUA): Männliche Influencer wie Gerard Pit propagieren ein hypermaskulines Ideal. Hier steht Dominanz im Vordergrund, Männer werden als „Versorger“ inszeniert, Frauen als „Belohnung“. Die Schnittmenge mit Tradwife-Inhalten ist groß – nur spiegelverkehrt.

Educator-Accounts: Kritische Stimmen wie Tara Louise Wittwer (@wastarasagt) oder Darya Alizadeh (@dariadaria) analysieren diese Narrative, weisen auf strukturelle Ungleichheiten hin und geben Kontext. Sie stellen Fragen wie: „Für wen wird dieses Ideal geschaffen?“ oder „Welche Realitäten blendet es aus?“

Diese unterschiedlichen Strömungen existieren nicht isoliert – sie kommentieren und reagieren oft direkt aufeinander. Ein typisches Muster: Ein Tradwife-Video geht viral, Educator-Accounts zerlegen es kritisch, PUA-Accounts feiern es als „Beweis“, dass Frauen eigentlich „zurückwollen“. Die Plattformen selbst verstärken diese Dynamik durch ihre Algorithmen, die polarisierende Inhalte besonders sichtbar machen.

Hannah Neeleman und „Ballerina Farm“: Das Gesicht einer Bewegung
Kaum eine Figur steht so sehr im Zentrum dieses Trends wie Hannah Neeleman, Gründerin von Ballerina Farm. Die ehemalige Juilliard-Tänzerin lebt mit ihrem Mann Daniel und acht Kindern auf einer 328 Hektar großen Farm in Utah und teilt diesen Alltag fast täglich mit über mehreren Millionen Followern.
Ihr Leben wirkt wie aus einer anderen Zeit: selbstgemachte Butter, Kühe im Morgennebel, Kinder, die barfuß über die Felder laufen. Die New York Times beschreibt sie als „Mormon farm wife“ und zugleich als „cultural lightning rod“ – eine Frau, die gleichzeitig bewundert und kritisiert wird. Aber wie kommt es zu diesen zwei Perspektiven? 

Romantisierung mit blinden Flecken
Auf den ersten Blick wirken viele Tradwife-Videos wie harmlose Lifestyle-Inhalte. Sie zeigen Brotbacken, Familienfrühstücke und makellose Wohnzimmer. Doch unter dieser Oberfläche steckt eine Romantisierung, die wichtige Aspekte ausblendet.
Die Narrative sind häufig ähnlich aufgebaut: „Früher war ich gestresst, unglücklich und überfordert – heute bin ich Hausfrau, und alles ist leicht.“ Diese Erzählung hat eine klare Dramaturgie: eine problematische Vergangenheit, ein Wendepunkt („Ich habe mich entschieden, zu Hause zu bleiben“) und ein glückliches Jetzt. Sie funktioniert wie eine Selbstheilungsgeschichte, nur dass sie selten hinterfragt, warum der Stress überhaupt entstanden ist und ob die Entlastung nicht auch andere Wege finden könnte, zum Beispiel durch bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder gar nicht so neue Rollenverständnisse, in denen die (männlichen) Partner mehr Carearbeit übernehmen und traditionelle Rollenverständnisse aufgelöst werden.
Diese Erzählweise verschiebt kollektive Probleme auf die individuelle Ebene: Überlastung wird zu einem persönlichen Versagen, nicht zu einem Symptom struktureller Ungleichheiten. Es geht nicht um politische oder gesellschaftliche Lösungen, sondern um Selbstoptimierung durch Rückzug. Das macht die Botschaft so attraktiv – und gleichzeitig so problematisch.

Der ökonomische blinde Fleck
In den Inhalten wird nämlich ein wichtiger Aspekt kaum thematisiert: die finanzielle Realität. Viele Tradwife-Accounts inszenieren ein Leben, das enorme Ressourcen voraussetzt: großzügige Häuser, Landbesitz, hochwertige Küchengeräte und ein Einkommen, das dieses Leben überhaupt möglich machen. Hannah Neeleman etwa nutzt einen britischen Aga-Ofen, der selbst gebraucht mehrere tausend Dollar kostet. Nara Smith inszeniert sich in ihren Videos immer wieder in Designermode. Für diese Familien ist das kein Problem, sie profitieren von einem erheblichen Vermögen und betreiben mit ihren Accounts selbst ein eigenes, lukratives Geschäft.
Doch diese Hintergründe werden selten transparent gemacht. Die Botschaft bleibt: „Du musst dich nur entscheiden, Hausfrau zu sein – und alles wird gut.“ Dass dieses Modell für die Mehrheit finanziell kaum machbar ist, wird kaum erwähnt. Auch strukturelle Faktoren wie Gender-Pay-Gap, Gender-Pension-Gap oder aktuelle Familienpolitik spielen in der romantisierten Darstellung keine Rolle: Ein Leben als Familie mit nur einem (durchschnittlichen) Gehalt ist aktuell kaum machbar. Gleichzeitig bleibt die Vereinbarkeit von (Vollzeit-) Job und Familie eine Herausforderung, die mit einem Zurück zu alten Rollenbildern nicht gelöst werden kann. 

Die Abwesenheit der Männer
Auffällig ist zudem, wie unsichtbar die Männer in diesen Inszenierungen sind. In den Videos sieht man sie kaum – wenn überhaupt, dann als Retterfigur („mein Mann hat mir die Kinder abgenommen, damit ich in Ruhe backen kann“) oder als stille Statisten, die durchs Bild huschen und die Kreationen ihrer Frauen lobend probieren. Diese Abwesenheit ist paradox: Einerseits sind die Männer der zentrale Grund für das Rollenmodell („der Mann verdient, die Frau sorgt“), andererseits verschwinden sie in der Darstellung fast vollständig. Selten haben diese Männer einen Namen, selten ist bekannt, was sie beruflich machen und wie sie dieses Leben finanziell ermöglichen. 
Diese Unsichtbarkeit wirft Fragen auf: Für wen wird dieser Content eigentlich gemacht? Für Frauen, die sich inspirieren lassen sollen? Für Männer, die dieses Ideal attraktiv finden und vielleicht romantisieren? Oder für ein Publikum, das zwischen Faszination und Kritik schwankt? Diese Mehrdeutigkeit macht den Trend anschlussfähig für sehr unterschiedliche Zielgruppen, u.a. für PUA – und damit so wirkungsvoll.

Nicht so traditionell, wie es scheint
Ironischerweise ist vieles am Tradwife-Trend alles andere als traditionell. Auf den ersten Blick wirkt er wie eine Rückkehr zu alten Werten, doch bei genauerem Hinsehen offenbart sich ein hybrides Phänomen. Die Inszenierungen, die nach nostalgischer Einfachheit aussehen, wären ohne moderne Technologie kaum denkbar. Smartphones, Ring Lights, Schnittprogramme und Social-Media-Plattformen bilden die Grundlage dafür, dass diese Bilder überhaupt entstehen und in Sekundenschnelle ein Millionenpublikum erreichen können.
Auch das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit hat sich radikal verschoben. Was einst als reine Hausarbeit galt, wird hier zur Marke: Familienalltag wird zum Content, Küche und Kinder werden Teil eines Geschäftsmodells. Hannah Neeleman verkauft über „Ballerina Farm“ nicht nur Lebensmittel, sondern auch Kochutensilien, Proteinpulver und sogar Cowboy-Boots – eine geschickte Verbindung aus traditioneller Hausfrauenrolle und moderner Influencer-Ökonomie. 
Hinzu kommt eine paradoxe Form der Selbstbestimmung. Viele Tradwives betonen, dass sie diese Rolle aus freiem Willen gewählt haben – und interpretieren genau diese Entscheidung als feministisches Statement. Die Botschaft lautet: „Ich entscheide mich selbst für meine Familie.“ Damit werden konservative Werte rhetorisch mit Selbstbestimmung verknüpft, was sie für ein breiteres Publikum anschlussfähig macht. Gleichzeitig gehen sie (teils lukrative) Werbedeals für unterschiedlichste Produkte ein, die in Tradwife-Ästhetik auf ihren Accounts beworben werden und tragen damit einen erheblichen Teil zum Familieneinkommen bei. Eingebettet in den Familienalltag fällt so gar nicht mehr auf, dass sie sich nicht nur Hausfrau und Mutter sind, sondern sich (bewusst) für ein Leben entschieden haben, dass konservativen Rollenbildern sogar widerspricht. 
Dieses Spannungsfeld macht den Trend so faszinierend: Er wirkt wie ein Rückschritt, ist aber zugleich ein Symptom moderner Digitalkultur. Er romantisiert ein „Früher“, das es so nie gab, und inszeniert es mit den Mitteln der Gegenwart.

Marktforscherische Perspektive: Polarisierung und Wertewandel
Für uns als Marktforscherinnen ist der Tradwife-Trend mehr als eine Social-Media-Kuriosität. Er liefert wertvolle Hinweise auf gesellschaftliche Dynamiken und sich wandelnde Wertvorstellungen.

Junge Frauen zwischen Ambivalenz und Abgrenzung
Junge Frauen zeigen häufig eine ambivalente Haltung: Sie bewundern die Ästhetik, die Ruhe, das Handwerkliche, das Familiäre, lehnen aber die implizite Rollenzuweisung ab. Aussagen wie „Ich finde es schön anzuschauen, aber für mich selbst könnte ich mir das nicht vorstellen“ tauchen häufig auf. Manche nutzen den Content sogar bewusst als Kontrastfolie: Er erinnert sie daran, warum sie Gleichberechtigung schätzen.

Junge Männer und konservative Rollenvorstellungen
Bei jungen Männern sehen wir hingegen einen anderen Trend: Studien, etwa der Financial Times, zeigen, dass Männer im Alter von 18 bis 30 in Fragen der Gleichberechtigung zunehmend konservativer denken als ihre weiblichen Altersgenossen. Aussagen wie „Es ist doch logisch, dass Männer mehr verdienen – sie müssen ja die Familie versorgen“ tauchen online häufig auf, in Interviews begegnen uns Aussagen, dass Männer mehr verdienen sollten als Frauen. Hier entsteht eine Wertekluft, die Konflikte in Partnerschaften, Familien und Gesellschaft verstärken kann.

Polarisierung als Markenspiegel
Für Marken und Unternehmen hat diese Polarisierung direkte Implikationen. Werbung, die klare Rollenmuster zeigt (z. B. Mutter kocht, Vater arbeitet), wird zunehmend kritisch hinterfragt – aber gleichzeitig finden konservative Botschaften in bestimmten Zielgruppen Resonanz. Die Frage lautet: Wie navigiert man Zielgruppen, die sich in zentralen Wertfragen spalten? 

Fazit: Nostalgie mit Widersprüchen
Tradwives sind kein simples Revival der 1950er. Sie sind ein hybrides Phänomen: Rückschritt und Hypermoderne, Nostalgie und Creator Economy, Privates und Öffentliches zugleich. Sie romantisieren ein „Früher“, dass es so nie gab, und verschmelzen es mit einer hochmodernen Form der Selbstdarstellung.
Für uns als Marktforscherinnen sind sie ein Spiegel gesellschaftlicher Spannungen. Sie zeigen, wie Krisen alte Werte wieder attraktiv machen und wie Social Media diese Werte ästhetisiert und global verbreitet. Sie machen sichtbar, wie unterschiedlich Männer und Frauen auf dieselben Inhalte reagieren – und wie sich neue Bruchlinien zwischen Generationen und Geschlechtern auftun.
Die entscheidende Frage lautet: Wie gehen wir als Gesellschaft mit dieser Sehnsucht um? Nehmen wir sie ernst als Ausdruck von Überforderung in einer komplexen Welt? Oder sehen wir sie als Gefahr für Gleichberechtigung? Wahrscheinlich beides.
Fest steht: Die Tradwife-Bewegung zwingt uns, über Geschlechterrollen neu zu sprechen – und über die Geschichten, die wir uns über ein „gutes Leben“ erzählen. Denn wenn Nostalgie auf Realität trifft, kommen ihre Widersprüche zum Vorschein: Die Sehnsucht nach Einfachheit kollidiert mit ökonomischen Zwängen, die Romantisierung mit den harten Fakten der Gleichberechtigung.
Und vielleicht ist genau das die zentrale Erkenntnis: Nicht die Frage, ob Tradwives „gut“ oder „schlecht“ sind, sondern was sie über unsere Zeit erzählen – über unsere Ängste, Sehnsüchte und die Suche nach Orientierung in einer Welt, die sich schneller verändert, als vielen lieb ist.

Autorinnen:
Stefanie Benighaus
Marie Gasper

 

 

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